Im Jahr 2019 rutschte ich in eine tiefe Sinnkrise, wie ich sie bisher nicht kannte. Ingrid und ich redeten tatsächlich oft darüber, was der Sinn, oder
MEIN Sinn des Lebens sein könnte. Das einzige, was mir dazu einfiel war, dass ich ihr materiell ein gutes Leben bieten konnte. Aber war das wirklich alles? Fernreisen interessierten mich nicht und ansonsten habe ich offensichtlich schon alles erlebt, was es zu erleben gab. Es war, als wartete ich nur noch auf’s Sterben.
Dieser immer wieder kehrende Gedanke beunruhigte mich mit meinen gut fünfzig Jahren und machte mir Angst. Ich kam mir nutzlos vor und zog mich innerlich zurück. Dazu kamen dann auch noch körperliche Beschwerden, die meinem Bewegungsmangel und dem vielen Sitzen im Büro geschuldet waren. Alte, mir gut bekannte Ängste, dass ich schwer krank sein könnte, tauchten wieder auf.
Ingrid hatte eine sehr große Nähe zu Johanna, die ich ihr wirklich gönnte. Sie war nicht nur beim Babysitten, sondern auch am Hof gefragt, während ich mich als Anhängsel fühlte, das man halt mitnehmen musste, weil es Ingrid ohne mich oft nicht zu haben gab. Dass ich zu Johanna keinen Zugang hatte, weil sie mich mehr oder weniger vollständig ignorierte, tat mir weh. Ich versuchte, mir das möglichst wenig anmerken zu lassen, um mich nicht auch noch irgendwelchen Diskussionen stellen zu müssen. Ich war an meine eigene Kindheit erinnert, um nicht zu sagen, darauf zurückgeworfen.
Obwohl Johanna das Kind war und nicht ich, fühlte es sich genau umgekehrt an. Ich bettelte um ihre Zuneigung, hatte aber keine Chance. Sie bestimmte, wem sie ihre Zuneigung schenkte und wem nicht. Die einzige Möglichkeit, um das so halbwegs zu überstehen war, mich auch von ihr innerlich abzugrenzen. Das linderte meinen Schmerz ein bisschen, wenngleich es dadurch auch nicht besser werden konnte. Ich schämte mich für meine eigene Reaktion, konnte aber trotzdem nicht aus meiner Haut.
Dass diese schweren Gedanken mitunter eine Ursache meiner Sinnkrise waren, wird mir erst jetzt beim Schreiben so richtig bewusst. Ich redete zwar mit Ingrid ab und zu über meinen Schmerz des ausgegrenzt seins, relativierte es aber gleich selber wieder, so nach dem Motto, das sind halt Kinder, da muss man drüber stehen. Doch diese Wunde ist schon viel älter, wie mir nun beim Reflektieren meines Lebensfadens bewusst wird.
Das latente Gefühl des Ausgegrenzt seins wurde durch die Baustelle von Christian wieder ganz gut betäubt. Es löste sich aber erst, als mich Lena sozusagen als ihren Opa entdeckte. Sie war weniger kontaktscheu als Johanna. Ich hatte den Eindruck, dass sie Johanna’s Ehrgeiz weckte, die mich quasi nicht kampflos an Lena abgeben wollte. Ich freue mich total, wenn ich daran denke, dass ich mittlerweile bei beiden unserer lieben Enkel als Opa gefragt bin. Ich freue mich, dass sie sich gerne auf meinen Schoß setzen und nach mir fragen, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich freue mich auch über unsere Leichtigkeit und Unbeschwertheit, wenn wir gemeinsam Party machen.
Wenn ich in die fröhlichen Kinderaugen von Johanna und Lena schaue und dazu ein bisschen etwas beitragen kann, dann spüre ich meinen Lebenssinn wieder recht gut. Aber auch wenn ich an unsere Kinder und Schwiegerkinder denke spüre ich Sinn. Obwohl ich bestimmt nicht immer gleichermaßen gefragt bin, habe ich doch den Eindruck, dass ich ihnen eine gewisse Sicherheit geben kann. Familie ist für mich eigentlich der höchste Wert und Lebenssinn. Aber ich kann nun auch meinen Lebenssinn in der Beziehung zu Ingrid wieder mehr spüren, den es natürlich immer gab. Aktuell freue ich mich über unser drittes Enkerl Lukas. Ich stelle mir gerade bildhaft vor, wie er gerade das erste mal selbständig ins Opa-Oma-Haus kommt, auf den Zehenspitzen stehend die Hand ganz nach oben strecken muss, um die Haustürglocke zu erreichen und zu uns herein kommen möchte. 🙂
„Schönes lieben, Gutes wollen, das Beste tun. Das ist die Bestimmung des Menschen.“