Als wir uns von unseren ME-Aktivitäten im Dezember 2013 mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen zurückzogen, war uns sehr schnell klar, dass sich durch diese Entscheidung unser ganzes Leben neu ausrichten wird. Beteuerungen wie, „wir hoffen, dass unser Kontakt nicht abreißt,…“ waren für mich von Anfang an leere Floskeln, obwohl ich mir das beim einen oder anderen gewünscht hätte.
Freundschaft verstand ich immer so, dass wir auf unserem Weg Menschen trafen, welche das gleiche Ziel hatten. Wir begleiteten uns gegenseitig auf diesem Weg, tauschten über unsere Erfahrungen aus, stellten dabei fest, dass wir die gleichen Werte hatten und gaben uns somit gegenseitig Sicherheit. Wir waren auf diesem Stück des Weges füreinander da. Basis für die Freundschaften war aber immer ein gemeinsames Ziel. Gab es das nicht mehr, lösten sich diese Freundschaften unausweichlich auf. Dennoch gibt es noch ein paar Menschen aus unserer aktiven ME-Zeit, mit denen wir uns in größeren Abständen treffen und auch verbunden fühlen.
Wirklich überlebt hat unseren Rückzug von ME nur die Freundschaft zu Karin und Lois. Die beiden sind die einzigen, die bis heute immer noch Interesse an uns haben, mit denen wir uns in unregelmäßigen Abständen treffen und gemeinsam unser Leben reflektieren. Die Verbindung zu ihnen blieb offensichtlich, weil sie sich nicht nur auf unser gemeinsames Engagement beschränkte, sondern weil zwischen uns eine sehr persönliche Herzensverbindung gewachsen ist, welche sich durch gegenseitiges Wohlwollen, Wertschätzung, Mittragen und Mitfreuen auszeichnet. Oft saßen wir mit Karin und Lois zu viert an einem Tisch, ohne uns ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Wir tauschten über unsere tiefsten Sehnsüchte und Wünsche, bis hin zum Bereich unserer Sexualität aus, aber auch über unsere Ängste und Sorgen – z.B. was unsere Familien, unsere Gesundheit oder unserer Älterwerden betrifft. Nach einem Treffen mit den beiden waren wir nicht selten geflasht von diesem gegenseitigen, einzigartigen, großartigen und unbeschreiblichen Vertrauen, welches uns im Gespräch immer wieder auch einen nächsten Schritt bewusst werden lies – bis heute.
Karin und Lois sind für uns Freunde, bei denen wir so sein dürfen, wie wir sind, die uns zuhören, aber nicht versuchen uns zu belehren, denen wir uns ohne Angst aus ihrer Liebe zu fallen mit unseren Schattenseiten zumuten dürfen und die uns ebenso intensiv an ihrem Leben teilhaben lassen. Der Abschied von der großen ME-Gemeinschaft, die uns über so viele Jahre so wertvoll war, hinterließ dennoch erst einmal eine gewisse Leere. Es war ungewohnt und aufregend, wenn wir daran dachten, was uns nun Neues erwarten wird. Trotzdem gingen uns immer wieder Gedanken durch den Kopf wie, „war es wirklich die richtige Entscheidung? werden wir jetzt zu Einzelgängern?“
Wenn wir uns hinein spürten, war sehr schnell wieder klar, das Alte musste abgestreift werden, auch wenn das Neue noch nicht ganz da war. Obwohl wir auch früher schon gerne wanderten, entdeckten wir die Berge als unsere neue Leidenschaft. Im Jahr 2014 waren wir sowohl im Sommer, als auch im Winter auf über 40 Gipfel in unserer schönen Heimat unterwegs. In der Natur unterwegs zu sein, gab uns viel Kraft. Im Jahr 2015 stiegen wir dann auf’s E-Bike um. Das war nicht nur Sport, sondern Gelegenheit für unzählige tiefgehende Gespräche, die wir dabei führten. Ich erinnere mich heute noch gerne an diese wunderschöne und bewegende Zeit. Trotzdem schwang auch immer ein wenig schlechtes Gewissen mit. Die Jahre davor war es unsere gemeinsame Leidenschaft, anderen Paaren zu helfen, jetzt genossen wir einfach nur unsere Freiheit und unsere Zweisamkeit. „Dürfen wir das wirklich?“, fragten wir uns manchmal. Wir mussten uns eingestehen, dass sich etwas, was wir so lange mit so einer Leidenschaft lebten, nicht von heute auf Morgen abstreifen ließ. Unser Lebensweg ging aber trotzdem unaufhaltsam in eine neue Richtung.
2016 begann Ingrid ihre Ausbildung zur Atemtherapeutin. Sie steckte mich mit ihrer Begeisterung rasch an, sodass ich das erste Jahr dieser Ausbildung mit dabei war, wobei es in erster Linie um Selbsterfahrung ging. Wir begleiteten uns sogar gegenseitig bei unseren Atemsitzungen. Das war noch einmal ein ganz neues, ziemlich intensives Gefühl von Vertrauen, wenn es darum ging, uns gegenseitig bis in den letzten Winkel unserer Seele schauen zu lassen, ohne vorher zu wissen, was kommen wird. Manchmal sogar unter Tränen oder anderen unerwarteten Gefühlsausbrüchen. Durch unser gegenseitiges öffnen in unseren Atemsitzungen erleben wir sehr viel Heilung – bis heute.
Ingrid meldete sogar das Gewerbe an, um ihrer Tätigkeit als Atemtherapeutin nachzugehen. Ich war sehr froh, dass sie damit etwas gefunden hatte, was ganz ihren Talenten und Fähigkeiten entsprach und Lebenssinn hat. Mit ihren wenigen Klienten steht sie dabei meist über längere Zeit in einer sehr intensiven Verbindung, die weit über ihre Sitzungen hinaus geht. Ähnlich wie bei ME geht es dabei um das Teilen ihrer Liebe und nicht um’s Geschäft.
„Wenn du nichts änderst, ändert sich nichts.“