27_Heilung

In unserer neuen Offenheit und durch die Ermutigung von Gerti und Franz war es uns nun möglich, so manches, ganz heiße Eisen anzugehen. Ein solches Beispiel möchte ich gerne erzählen, weil hier tatsächlich so viel an Heilung geschehen ist, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

Es ging um mein verletzendes Verhalten Ingrid gegenüber, wenn wir auf der Baustelle waren, wovon ich weiter oben bereits schrieb. Das war für mich deswegen ein heißes Eisen, weil ich mich dafür schämte. Ich wusste, dass mein Verhalten nicht OK war, schaffte es aber trotzdem nicht, mich zu ändern. An einem Freitag Abend vertraute ich mich Ingrid in einem Brief an, wie es mir damit wirklich ging. Als ich ihr diesen Brief übergab, war ich unsicher, ob sie mich wirklich verstehen kann. „Ich war ja sozusagen der Täter und Ingrid die eigentlich Leidtragende. Und jetzt soll sie auch noch Verständnis für mich haben?“

Erwartet hätte ich mir, dass sie mir sagt, dass es wirklich schlimm war. Im allerbesten Fall hätte ich mir erwartet, dass wir gemeinsam darüber reden, was mir in solchen Situationen helfen könnte, damit ich künftig weniger ärgerlich bin. Aber auch das kam zu meiner Überraschung nicht.
Ingrid nahm mich an den Händen und sagte „Danke für dein Vertrauen, das muss dir ziemlich schwer gefallen sein.“ Sie stellte mir einige Fragen, um mich noch besser zu verstehen, wie z.B. „wie ist das für dich, wenn ich dann ganz stumm werde?“ oder „kannst du mir dieses Gefühl noch genauer beschreiben“, „wie lange beschäftigt dich das schon“,…

Ich war völlig perplex. Nicht die Spur einer Anschuldigung, die ich aus ihren Fragen heraushören konnte. Sie ließ es tatsächlich gelten, dass ich da wirklich nicht aus meiner Haut konnte. Zum Abschluss des Gesprächs sah sie mir ganz tief in die Augen, nahm erneut meine Hände und sagte, „ich mag dich, wie du bist“.

Sie hat das nicht zum ersten Mal zu mir gesagt, aber wir wussten beide, dass es diesmal eine völlig andere Bedeutung hatte. Ich fühlte mich nicht nur verstanden, sondern ganz tief in meiner Seele angenommen und geliebt. Ich war froh, dass ich mich traute, dieses Thema endlich anzusprechen.

Am nächsten Tag wollten wir in der Garage ein paar Lampen montieren. Ingrid und ich saßen mit den Kindern gemütlich beim Frühstück. Ich sagte zu Ingrid, „jetzt hoffe ich, dass es mir heute besser gelingt“. Wenig später stand ich auf der Stehleiter und bemerkte, dass der falsche Bohrer eingespannt war und bat Ingrid, mir statt dem 8er einen 6er-Bohrer zu holen. Als sie zurück kam, hatte sie statt einem 6er-Steinbohrer einen Eisenbohrer in der Hand.

Mein Reflex war sofort da: „wie oft habe ich dir das schon erklärt!“, gab ich ärgerlich von mir. Im selben Moment wurde mir unser gestriges Gespräch bewusst. Wut über mich selber stieg augenblicklich in mir auf und ich schleuderte den Bohrer, den ich noch in der Hand hatte, in eine Ecke und stieg sofort von der Leiter. Ich wendete mich Ingrid zu, die in diesem Moment überhaupt nicht wusste, was das jetzt werden sollte. Ich entschuldigte mich bei ihr mit den Worten, „jetzt bin ich schon wieder so, das tut mir leid.“ Wir umarmten uns und drückten uns ganz fest aneinander. Ingrid sagte wieder, „ich mag dich, wie du bist“. Das veränderte alles!

Was hier passierte, lässt sich am besten mit einem Text von Anthony de Mello beschreiben:
Meine Freunde sagten seit Jahren zu mir, ich solle mich ändern.
Meine Frau nickte dazu.
Jeder sagte mir immer wieder, ich solle mich ändern.
Ich pflichtete ihnen bei und ich wollte mich ändern,
aber ich brachte es nicht fertig, so sehr ich mich auch bemühte.
Dann sagte eines Tages meine Frau zu mir:
“Ändere dich nicht! Bleib, wie du bist. Es ist wirklich nicht wichtig,
ob du dich änderst oder nicht.
Ich liebe dich so, wie du bist. So ist es nun einmal.”
Diese Worte klangen wie Musik in meinen Ohren:
“Ändere dich nicht, ändere dich nicht … ich liebe dich.”
Und ich entspannte mich und ich wurde lebendig und
Wunder über Wunder, ich änderte mich!
Jetzt weiß ich, dass ich mich nicht wirklich ändern konnte,
bis ich jemanden fand, der mich liebte,
ob ich mich nun änderte oder nicht.

Das war wirklich Heilung, die ich hier durch Ingrid erfahren habe, auch wenn es vereinzelt immer noch Situationen gibt, wo ich in mein altes Verhaltensmuster hinein rutsche. Mir wird das in diesen mittlerweile seltenen Fällen sehr rasch bewusst und spreche es sofort an, wenn es die Situation erlaubt – ansonsten spätestens vor dem Schlafengehen. Während ich das schreibe, bin ich sehr berührt und unendlich dankbar für die große Liebe von Ingrid.

Seither ist es uns wichtig, dass wir uns nach getaner, gemeinsamer Arbeit gegenseitig bedanken, sei es auf der Baustelle, beim Rasenmähen, im Garten, in der Küche,… Es gibt tatsächlich kein gemeinsames Arbeiten mehr, ohne hinterher ein aufrichtiges und wertschätzendes DANKE auszusprechen – und das ist bis heute zu keiner Floskel geworden. Wir bedanken uns ebenso nach einem gemeinsamen Ausflug, weil dieser
ohne den anderen nicht in dieser Form möglich gewesen wäre. Ebenso bedanken wir uns nach dem Kuscheln oder einer sexuellen Begegnung ganz bewusst beim anderen… Dadurch erleben wir täglich, was wir aneinander haben und dass nichts selbstverständlich ist.

„Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“

26_Zeitungsverantwortung bei ME

Ein Jahr nach dem ME-Wochenende (2003) wurde ein neues Zeitungsteam gesucht. Ingrid und ich wollten uns einbringen und erzählten das bei einem Monatstreffen in Bad Ischl. Für uns völlig überraschend, riefen uns Elfi und Dietmar Loidl an, die damals für ME-Österreich verantwortlich waren, um dieses Thema zu besprechen.

Wow, das war für uns, als würde der Bundespräsident persönlich mit uns sprechen wollen! Mit nur einem Jahr ME-Erfahrung waren wir alles andere, als prädestiniert für diesen Dienst. Wir hatten in Wirklichkeit keine Ahnung, was da auf uns zukommen würde, waren aber trotzdem voller Begeisterung. Elfi und Dietmar setzten sehr viel Vertrauen in uns, es war ihnen aber wichtig, dass wir das nicht alleine stemmen. Also versuchten wir, die drei Paare unserer neuen Gmundner Dialogrunde, mit der wir uns seit kurzem regelmäßig trafen, davon zu begeistern, was uns auch gelang. Elfi und Dietmar wurden übrigens später gute Freunde von uns.

Schon bei der ersten Zeitungsausgabe stellte sich ziemliche Ernüchterung ein. Wir waren in diesem Team einfach sooo unterschiedlich! Eine Künstlerin war für das Deckblatt zuständig. Sie wollte auf der ersten Ausgabe ein Foto mit einer schwarzen Familie abbilden (und hat sich auch durchgesetzt). Mit zitternder Stimme fragte ich sie, was dieses Foto ihrer Meinung nach mit Paarbeziehung zu tun hat? Damit trat ich einen Konflikt los, der nur mehr schwer einzufangen war. Eine andere, sehr belesene Frau suchte Gedichte heraus, die für mich zu poetisch waren, um sie tatsächlich zu verstehen. Mir war jedoch klar, dass ich jetzt nicht noch eine zweite Kritik anbringen konnte.

Mir erschien alles unpassend, was oberflächlich war, das Thema Paarbeziehung nur indirekt traf und einem beim Lesen nicht wirklich unter die Haut ging. So waren diese drei Jahre Zeitungsverantwortung hauptsächlich von Kompromissen geprägt. 

Ein besonderes Highlight war, als Ingrid und ich beim Regionalverantwortlichen-Treffen in Wien zum ersten Mal unsere Zeitungsarbeit vorstellen sollten. Wir wurden eingeladen, vor versammelter Führungsmannschaft von ME-Österreich einen Vortrag zu halten! „Puh! Das sind mehr als dreißig Leute und sogar ein Priester ist dabei – ich bringe kein Wort heraus!“, dachte ich mir. Kneifen traute ich mich auch nicht, also nutzten wir die acht Wochen Zeit, die wir noch hatten, um uns möglichst gut vorzubereiten. Es wäre bei ME keine Schande gewesen, unseren Text einfach wie einen Aufsatz herunter zu lesen. Ich witterte jedoch die Chance, die darin lag, um endlich vor anderen Menschen sprechen zu lernen. Ich wusste ja, dass ich mit meinem Knacks an allen Ecken und Enden Probleme hatte. Nicht nur bei ME, sondern auch in der Firma wurde es mir immer enger, umso verantwortungsvoller meine Aufgaben wurden.

Zu Hause probten wir unseren Auftritt, der nicht länger als zehn Minuten dauerte, fast bis zum Umfallen. Bevor wir mit unserem Vortrag begannen, war ich so nervös, dass ich meinen Puls deutlich bis in meinen Kopf spürte. Ich stotterte weniger als befürchtet, hing nicht nur am Zettel und wagte mehr Blick in die Menge, als ich mir das jemals erträumt hätte. Vom Wohlwollen unserer Zuhörer getragen, war es eine sehr positive Erfahrung. Es kamen Fragen aus dem Publikum, die ich gut beantworten konnte. Wir erhielten Zustimmung für unsere Pläne, die Menschen drückten ihre Freude über unser Engagement aus, klopften uns auf die Schultern mit Worten wie, „ihr seid echt ein tolles Paar“, „wir sind stolz auf unser Zeitungsteam“, „wir hoffen, dass wir uns wieder sehen“,…

Was für eine heilsame Erfahrung! Für mich war das ein Triumph über mich selbst! Meine Angst, etwas vor anderen Menschen sagen zu müssen war deswegen nicht gleich weg, aber nun wusste ich, dass es einen Weg gibt! Ich bin froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe! Durch den vielen Zuspruch durfte ich die Erfahrung machen, dass ich geliebt werde.

 

“Die großen Augenblicke sind die, in denen wir getan haben, was wir uns nie zugetraut hätten.”

25_Gemeinschaft mit Gleichgesinnten

Es ging bei Marriage Encounter tatsächlich um nichts weniger, als um einen neuen Lebensstil. Da musste man uns nicht lange überreden um zu begreifen, dass wir Gleichgesinnte brauchen, um auf diesem anspruchsvollen Weg zu bleiben. Außerdem habe ich ohnehin immer ein bisschen darunter gelitten, seit Beginn unserer Ehe, mit dem Umzug nach Gmunden, keine Freunde mehr zu haben. „Vielleicht ist das ja eine Chance“, dachte ich mir. Ich erinnerte mich auch an einen Ausspruch, den uns Franz Schobesberger vor vielen Jahren mit auf den Weg gab: „Du wirst in das verwandelt, womit du dich beschäftigst.“- und auch, mit wem du dich beschäftigst.

So wussten wir schon von früher, welche Kräfte eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten in dieser Hinsicht entfesseln konnte. Gleich nach dem ME
Wochenende nahmen wir an einer sogenannten Brückenrunde teil. Ziel dieser Brückenrunde war es, die Erfahrungen des ME-Wochenendes in den Alltag zu integrieren. Mit dabei waren Ursula u. Mike, Regina u. Viki, Christiane und Hans, sowie Pfarrer Hans Hammerl. Wir trafen uns sieben Abende in Bad Ischl bei Ursula und Mike. Unsere Kinder ließen wir bei diesen Treffen zum ersten Mal nicht nur für eine Stunde, sondern einen ganzen Abend alleine zu Hause. Damit war gleich noch eine weitere Premiere verbunden. Michael war sechs Jahre alt, Daniel knapp neun. Ingrid und ich haben unsere Jungs gut darauf vorbereitet. Sollte irgend etwas sein, waren wir uns sicher, dass wir uns darauf verlassen konnten, dass uns Daniel, als der Älteste, am Handy anrufen würde.

Ich hatte immer noch das Problem, dass ich in einer Gruppe, wo mir alle zuhörten, kaum einen geraden Satz herausbrachte. Da war sie wieder voll da, meine Angst, dass ich irgend etwas Falsches sage, womit ich mich blamieren könnte. Diesmal gab es für mich nur die Flucht nach vorne. Wo es doch so viel um Gefühle ging, sprach ich gleich am ersten Abend an, wie schwer es mir fällt, in einer Gruppe etwas zu sagen. Ich war froh, dass nun alle Bescheid wussten und hatte den Eindruck, dass es OK war, wenn ich derjenige in der Runde war, der nur ganz kurze Statements abgab, wenn überhaupt. Dieses „du bist OK, so wie du bist“, löste diesen Knoten in meinem Hals nach und nach auf. Ich konnte mich auch am siebten Abend noch nicht gleichwertig an den Gesprächen beteiligen, war aber trotzdem zufrieden mit meinen kleinen Fortschritten.

Wir fanden in dieser Gruppe tatsächlich gute Freunde. Alle hatten Kinder im selben Alter, wir trafen uns bei den ME-Monatstreffen in Bad Ischl oder zum Baden am Wolfgangsee. Es gab Treffen mit und ohne Kinder, wir schrieben gemeinsam Dialog und verbrachten einmal sogar unseren Urlaub gemeinsam auf einer Almhütte im salzburgischen Unken. Wir verabredeten uns auch zu so mancher Familienwoche, z.B. am Ossiachersee in Kärnten.

“Im Grunde sind es die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben Sinn geben.”

24_Neubeginn nach dem ME-Wochenende

Wir waren überzeugt, dass wir so etwas nicht brauchen, aber Hemma und Wolfram waren mit ihrer Einladung so hartnäckig, dass wir uns letzten Endes zu diesem Wochenende angemeldet haben. Das ME-Wochenende führte zu einer neuen, viel tieferen Art unserer Liebesbeziehung. Wir bekamen ein Werkzeug an die Hand, den sogenannten Dialog, mit dem es uns gelang, unsere Gefühle besser wahrzunehmen und offen anzusprechen.

Der Dialog im Sinne von ME bedeutet, dass wir uns mit vorgegebenen Regeln zu einem bestimmten Thema einen Liebesbrief schreiben und anschließend auch wieder mit bestimmten Regeln darüber reden. Unsere Offenheit im Schreiben war auch zu Hause von Anfang an sehr groß, mit dem anschließenden Gespräch hatten wir vorerst noch Schwierigkeiten. Ich las den Brief von Ingrid aufmerksam, war jedoch nicht in der Lage, ihr mein Interesse zu zeigen, indem ich nachfragte, oder mit eigenen Worten wiederholte, was sie mir sagte. Der Brief stand einfach da, mir schien alles klar zu sein, was Ingrid schrieb und das war‘s. Dennoch war das schon sehr viel, weil ich von Ingrid erfuhr, wie es ihr wirklich ging.

Dass das bei Weitem nicht alles war, lernte ich erst viel später. Die Teampaare des ME-Wochenendes wiesen uns auch darauf hin, dass wir diese neue Art der Kommunikation üben müssen, wenn wir nicht wollen, dass nach ein paar Wochen wieder alles beim Alten sein sollte. Deshalb bauten wir den Dialog fix in unseren Alltag ein. Um richtig reinzukommen, für die ersten 30 Tage gleich mal jeden Tag, später dann zumindest 1-2x in der Woche. Wir hielten es vorher nicht für möglich, was wir in diesen Dialogen alles voneinander erfuhren, obwohl wir uns nun schon mehr als 15 Jahre kannten. Wir waren plötzlich wieder total interessant füreinander. Es entfaltete sich wieder ein herrliches Prickeln zwischen uns, so wie wir es aus der Zeit unserer Verliebtheit kannten. Unvorstellbar? Nein, tatsächlich WAHR!

Es war ein ähnliches Gefühl, wie damals bei unserer Lebensübergabe bei den Jugendseminaren, als wir uns entschieden, kompromisslos die Liebe Jesu zu leben. Es war unser beider, ganz starke Intuition, dass wir nun wieder an so einer Wegkreuzung standen, die das Potential hatte, unser gesamtes Leben auf den Kopf zu stellen. Es war etwas ganz Großes, Unfassbares, Wertvolles, dessen Tragweite wir nur erahnen konnten. In unserer grenzenlosen Begeisterung waren wir fest entschlossen, diesen kostbaren Faden nicht mehr loszulassen. In den Teampaaren hatten wir neue Vorbilder, die uns sogar angeboten haben, dass wir sie anrufen dürfen, wenn wir Fragen haben.

In der Hoffnung, dass dieses Angebot ernst gemeint war, rief Ingrid nach einigen Wochen bei Gerti und Franz an. Wir wollten alles wissen von diesem Lebensstil, von dem die beiden beim ME-Wochenende immer wieder sprachen. Deshalb lud uns Ingrid in diesem Telefongespräch mit Gerti auf einen Kaffee in die Steiermark ein. Gerti hielt es kaum für möglich, dass wir wirklich diesen weiten Weg auf uns nehmen wollten. Dass dieses Treffen der Anfang einer ganz großartigen, intensiven Begleitung durch Gerti und Franz und einer jahrelangen Freundschaft war, stellte sich erst später heraus.

 

“Hab keine Angst vor einem Neuanfang. Diesmal fängst du nicht bei Null an, sondern mit Erfahrung.”

23_Erste Abnützungserscheinungen in unserer Beziehung

Ich komme noch einmal zurück, auf den Einzug beim Roitbinder. Das große, gemeinsame Ziel war erreicht. Danach machte sich zum ersten Mal
schleichend eine gewisse Leere in der Beziehung zwischen Ingrid und mir breit. Unsere Gespräche wurden weniger und waren nicht mehr so tiefgehend wie früher.

Ich erinnerte mich daran, als wir in unserer Verliebtheit bis zum Morgengrauen im Auto saßen und gar nicht genug voneinander erfahren konnten. Nun wohnten wir schon einige Jahre beieinander und meinten, einander eh zu kennen. Diese aufkommende Leere zwischen uns füllte ich, indem ich mich am Computer verwirklichte, Ingrid engagierte sich unter anderem bei der Mütterrunde und den Kinderwortgottesdiensten.

Mit der Gegenhuber-Baustelle hatten wir wieder ein neues, gemeinsames Ziel. Doch bei Ingrid ging nun auch viel Zeit für unsere Kinder auf, womit sie trotz meiner vollsten Bewunderung nicht mehr uneingeschränkt für die anstehenden Umbauarbeiten verfügbar war. Dies brachte ganz neue Seiten an mir zum Vorschein, auf die ich nicht stolz bin. Ich fühlte mich ständig unter Druck und war eigentlich immer ärgerlich, wenn ich mit Ingrid allein auf der Baustelle war: „wo bleibst du denn so lange“, „geht es noch umständlicher“, oder ich nahm ihr unsanft und ohne Worte das Werkzeug aus der Hand.

Sobald wir vom Frühstückstisch aufstanden, war ich wie ausgewechselt. Ich war im Laufschritt unterwegs und erwartete mir von Ingrid das gleiche Tempo. Ärger stieg in mir auf, wenn zwischendurch die Kinder etwas von Ingrid brauchten, oder sie kurz weg musste, um den Ofen einzuschalten. Ebenso ärgerte ich mich, wenn Ingrid eine handwerkliche Tätigkeit nicht auf Anhieb so hinbrachte, wie ich es ihr erklärte, oder wenn sie mir das falsche Werkzeug brachte. Das führte zu Spannungen, die Ingrid meistens schluckte, bzw. die Schuld bei sich suchte.

Manchmal führte es aber auch dazu, dass wir tagelang nur noch das Allernötigste miteinander redeten. Abgesehen von den immer wiederkehrenden Schweigephasen, die ich nicht kleinreden möchte und die vor allem mit meinen zu hohen Zielen bei unseren Baustellen in Zusammenhang standen, waren wir schon darauf bedacht, dass es dem anderen gut ging. Streiten konnte man mit Ingrid überhaupt nicht, weil sie sich anpasste, wo es nur ging. 

Im allgemeinen waren wir mit unserer Beziehung trotz dieser Abnützungserscheinungen recht zufrieden und sogar ein wenig stolz drauf. D.h. wir haben uns so gut es ging arrangiert und konnten damit leben. Von dem damaligen prickeln war jedoch nicht mehr viel übrig. 

 

“Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich schadet, ohne anderen zu nützen.”

22_Das Gegenhuber

Vor 3 1/2 Jahren erst zogen wir ins Roitbinder ein, als der Vater von Ingrid überraschend das Gegenhuberhaus überschrieben bekam. Frau Gegenhuber (s’Annerl) zog ins Altersheim und hatte keine näheren, lebenden Verwandten mehr. Nachdem wir die einzigen in der Familie waren, die noch keine eigene Bleibe hatten, überschrieb Vater uns das ebenfalls restaurierungsbedürftige Haus in der Scharnsteinerstraße 24.

Genauso begeistert wie beim Roitbinder, begannen wir mit dem Umbau des Gegenhuber’s. Es war ja nun unser eigenes Haus, somit ging für uns ein Traum in Erfüllung! Die noch offenen 11 Jahre Wohnrecht beim Roitbinder ließen wir gerne verfallen. Warum es mir wichtig ist das zu erwähnen? Weil es für mich ein sehr emotionales Beispiel dafür ist, wie die Welt ein Stückchen friedlicher sein könnte: Willi, der Eigentümer des Roitbinder erzählte uns viel später, welchen Anfeindungen er in seiner Verwandtschaft ausgesetzt war, als er nach seiner Erbschaft das Wohnrecht für 15 Jahre vergab. Er ließ uns das aber nie spüren. Für ihn zählte nicht der Profit, sondern es war ihm viel wichtiger, einer jungen Familie eine Chance zu geben, sich etwas zu schaffen. Nachdem wir schon nach 4 Jahren auszogen, hielten dann manche uns für die Dummen.

Wir konnten Willi nun ein Stück seiner Großherzigkeit zurück geben und wir sind uns heute noch sehr zugetan, wenn wir uns irgendwo begegnen. Wir sind dankbar, dass er uns damals die Sicherheit der 15 Jahre gewährte, weil wir uns dieses Projekt sonst nicht zugetraut hätten. Ebenso wie er dankbar war, dass wir wegen der verbleibenden 11 Jahre Wohnrecht keine Forderungen stellten. Wozu auch, das Roitbinder kostete uns keinen Schilling, wir lernten dabei sehr viel und der Mietaufwand von vier Jahren hätte den geleisteten Arbeitsstunden sogar entsprochen. Außerdem hatten Ingrid und ich bei der Restaurierung des Hauses ein gemeinsames Ziel, was sehr verbindend war. Somit gab es nur Gewinner! Die Großherzigkeit von Willi berührt mich heute noch, wenn ich daran denke.

Das Gegenhuber sah auf den ersten Blick viel besser aus, als das Roitbinder. Vor allem war es größer und heller. Dennoch musste so gut wie alles neu gemacht werden: Bad, Fenster, Türen, Heizung, Elektroinstallation, Dachstuhl mit Innenausbau, Kanalanschluss, Garage, Vorbau und die Asphaltierung der Zufahrt. Um das alles finanzieren zu können, verkauften wir unseren Baugrund am Lembergweg, sowie später jenen Teil des Gegenhubergrundes, auf dem heute das neue Obereigner-Haus steht. Trotzdem ging’s bei weitem nicht in jener Geschwindigkeit weiter, wie bei der Roitbinderbaustelle. Nicht nur, weil alles viel größer war, sondern weil wir beim Start dieses Projekts bereits zwei kleine Kinder hatten.

Wenn wir Hilfe brauchten, mussten wir jetzt auch öfter fragen, das heißt, die Brüder von Ingrid und ihr Vater haben uns zwar sehr unterstützt, sind aber nicht mehr so häufig von selber auf unserer Baustelle aufgetaucht. Ingrid war meistens mit den Kindern auf der Baustelle, stellte zu Mittag für alle ein warmes Essen auf den Tisch, wurde nicht selten um fehlendes Baumaterial zum Baustoffhändler geschickt und war trotzdem oft als fixe Arbeitskraft eingeplant, weil vieles alleine ja schwer ging. Sie bediente die Mischmaschine, half mir beim Einziehen der Elektroinstallation, beim Montieren der Gipskartonplatten, war zur Stelle für unzählige kleine Handgriffe und reinigte am Abend meistens noch die Baustelle. Sie stand den Männern als Helferin auf unseren Baustellen um nichts nach. Wie Ingrid das mit unseren Jungs alles unter einen Hut brachte, ist mir heute ein Rätsel. An den Sonntagen war trotzdem Pause und wir machten meistens einen Ausflug mit unseren Kindern.