Ingrid und ich waren von ME so begeistert, dass wir keine Gelegenheit ausließen, um uns aktiv einzubringen.
Eine besondere Ehre war es uns, als wir eingeladen wurden, Teampaar bei den ME-Wochenenden zu werden. Bei der ersten Serie ging es nur um drei Impulse, die wir ausarbeiten sollten. Trotzdem waren wir unsicher, ob wir das wirklich können. Besser gesagt, wir fühlten uns damit trotz aller Ehre völlig überfordert. Gerti und Franz, die uns bei der Ausarbeitung dieser Impulse ihre Begleitung anboten, machten uns glaubhaft, dass sie uns das tatsächlich zutrauen und dass sie sich sogar freuen würden, wenn wir gemeinsam bei einem ME Wochenende im Team sein würden.
„Wow, warum gerade wir?!“ Die beiden sahen etwas in uns, was wir überhaupt nicht nachvollziehen konnten. Dennoch hatte die Sache ihren Reiz. Gerti und Franz waren für uns Vorbilder und wir wollten die Chance nicht auslassen, sie öfter zu treffen, um von ihnen zu lernen. Schließlich einigten wir uns darauf, dass wir die Impulse schreiben, was für gewöhnlich ungefähr ein Jahr in Anspruch nahm und wir anschließend entscheiden durften, ob wir damit tatsächlich auf’s ME Wochenende gehen. Das war ein großes Zugeständnis von Gerti und Franz, weil sie sehr viel Energie und Zeit in uns investierten, ohne zu wissen was dabei herauskommt. Wir verbrachten einige Wochenenden bei den beiden in der Steiermark, ohne nur einen Buchstaben zu schreiben.
Es ging vorerst ausschließlich darum, unser Leben und unsere Beziehung ausgiebig zu reflektieren und bis in den allerletzten, dunkelsten Winkel zu beleuchten. An einem Samstag tauschten wir mit den beiden 11 Stunden ununterbrochen über unsere destruktiven Verhaltensmuster, unsere Stärken und Schwächen, unser Zuhören, unsere Sexualität, unser gegenseitiges Vertrauen, unsere Kommunikation, etc. aus. Die Mahlzeiten bereitete Gerti ganz nebenbei zu und das Gespräch ging selbst beim Essen weiter. Am späten Nachmittag schlief Franz dann direkt beim Tisch sitzend ein und schnarchte leise vor sich hin. Das war für uns eigentlich ein Zeichen, dass wir die Gastfreundschaft der beiden nun endgültig überstrapazierten. Gerti ließ jedoch nicht locker und meinte, „da denkt er nur ganz intensiv nach“. Wir waren so auf der Welle, dass wir das in diesem Moment tatsächlich glaubten und unterbrechungslos weiter redeten.
Es waren unzählige Therapiestunden, die wir von den beiden geschenkt bekamen und die wir niemals bezahlen hätten können. Auf dem Heimweg waren wir jedes Mal wie in Trance und voller neuer Erkenntnisse, die wir unbedingt umsetzen wollten. Und doch war es keine Therapie, es war viel mehr! Es war bedingungslose Liebe, die uns Gerti und Franz über so lange Zeit schenkten. Sie hörten uns mit dem Herzen zu, bestärkten uns, förderten uns und hielten mit ihren eigenen Erfahrungen nicht hinter dem Berg. Wir fühlten uns von den beiden angenommen und geliebt, bis in die dunkelsten Ecken unseres Seins. Irgendwann gaben wir ihnen dann den Titel unserer „ME-Eltern“.
Auf die Frage, wie wir das jemals zurück geben können meinte Gerti, „gar nicht – das ist ja auch nicht der Sinn. Gebt es dort weiter, wo IHR steht, in eurer Familie, bei euren Freunden, in der Firma, dann bleibt die Liebe im Fluss“. So konnten wir das gut annehmen. Gerti und Franz lehrten uns mit ihrem eigenen Leben, dass Liebe kein Tauschgeschäft, sondern ein Geschenk ist, mit dem wir die Welt ein Stück liebender machen können. Dieser Gedanke, wie die Liebe im Fluss bleibt, ohne einander etwas schuldig zu bleiben, faszinierte uns und bekam eine sehr große Bedeutung in unserem Leben, egal ob ich dabei an unsere Kinder denke, oder an die vielen Paargespräche, in denen wir uns später ebenfalls entschieden, für andere da zu sein.
Im November 2004 war es dann tatsächlich so weit. Wir waren zum ersten mal im Team eines ME-Wochenendes am Salzburger Mönchsberg. Als wir dort unsere Geschichte in all den persönlichen Details erzählen durften, war das auch Therapie für uns. Wir erhielten sehr viele positive Rückmeldungen, nicht zuletzt von Eva und Adi, die an diesem Wochenende teilnahmen. Durch diese positive Erfahrung motiviert, folgten weitere ME-Wochenenden, wir erarbeiteten in den folgenden Jahren die zweite und dritte Serie der Impulse und stiegen damit in die Fußstapfen unserer Vorbilder.
Meine Angst, vor anderen Menschen etwas sagen zu müssen schwand mehr und mehr, sodass wir uns sogar die Verantwortung für die Region Oberösterreich/ Salzburg zutrauten und im erweiterten Ö-Team waren. Wir leiteten das Sexualitätswochenende und nun waren wir diejenigen, die andere Paare begleiten und fördern durften, so wie wir damals gefördert wurden. Ingrid und ich gingen in diesen Aufgaben voll auf. Nicht selten hatten wir 4 Abendtermine in der Woche, an denen Paare zum Gespräch zu uns nach Hause kamen.
In Gmunden bauten Ingrid und ich einen neuen Monatstreffenstandort auf, zu dem manchmal mehr als 16 Paare kamen, sodass wir vom Kapuzinerkloster in den größeren Pfarrsaal wechseln mussten. Nachher gab es so einen Zuwachs bei den Monatstreffen in ganz Österreich nie wieder. Grundlage dafür war, dass wir so viel Energie wie irgendwie möglich in dieses Projekt steckten und für die Paare auch zwischen den Treffen da waren, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oft ganz bewusst für jene, die es am wenigsten von uns erwarteten.
Wir wurden bewundert und gleichzeitig auch gewarnt, weil sich kaum jemand vorstellen konnte, dass wir dieses große Engagement auf Dauer durchhalten würden und wir irgendwann einmal ausbrennen könnten. Es war jedoch gar nicht unsere Absicht, irgend etwas durchzuhalten. Wir lebten im JETZT und jetzt fühlte es sich richtig an!
„Leben volle Kanne“, war ein langjähriges Lebensmotto von uns. Uns war von Anfang an klar, dass diese große Gruppe in Gmunden genau so
schnell wieder verschwinden wird, wie sie sich bildete, sobald unser Engagement nachlässt, das machte uns aber nichts aus. Wir hatten eine
lebendige Gemeinschaft mit Gleichgesinnten um uns, wirklich gute Freude und wir reflektierten uns bei den zahlreichen Veranstaltungen und
Paarabenden regelmäßig. Das war eine ziemlich gute Basis für ein glückliches Leben und Grund genug, unsere Energie und Liebe mit diesen Menschen zu teilen.
Unsere so intensive ME-Zeit dauerte rund 12 Jahre. Rückblickend war es eine unvergesslich schöne und sinnerfüllte Zeit, geprägt von großem persönlichem Wachstum, bei dem ich viele alte Verletzungen aufarbeiten und mich gemeinsam mit Ingrid entfalten und meine Persönlichkeit entwickeln konnte.
Zu Beginn dieser Zeit war Michael 6 Jahre alt. Wir fragten uns oft, ob wir unsere Kinder durch unsere große Begeisterung für ME vernachlässigten. Ich erinnere mich noch gut an diese innere Zerissenheit, habe jedoch keine einzige Wahrnehmung dazu, dass es unseren Jungs zu viel gewesen wäre. Im Gegenteil, als Ingrid einer Nachbarin vom ME-Wochenende erzählte, stieg Michael mit seinen damals 8 Jahren voller Begeisterung ins Gespräch ein und sagte, „da musst du hin, das ist was Gscheites“.
Gerade wegen unserer Kinder fühlten wir uns neben den Zweifeln auch bestärkt, diesen Weg so intensiv zu gehen. Mir war schon sehr bald bewusst, dass wir sie nicht erziehen können, in dem wir ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Letzten Endes zählte nur das, was wir ihnen vorlebten.
So schien auch die Absicht der Gründer von ME aufgegangen zu sein: „Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut“. Dennoch hat alles seine Zeit. Genauso wie ich jedes meiner Hobbys wie Harmonikaspielen, Motorradfahren, E-Biken, etc. einige Jahre mit voller Leidenschaft verfolgte und dann aufhörte und mir etwas Neues suchte, war klar, dass wir auch bei ME nicht ewig so engagiert sein werden. Es war schon etwas Tieferes, aber wir waren und sind nach wie vor keine „Dauertypen“.
Das Ende unserer intensiven ME-Zeit bahnte sich an, als wir in den zehn Jahren ME quasi alles erlebt hatten, was es zu erleben gab. Es gab kaum einen Dienst, den wir in diesen Jahren nicht inne hatten, womit sich vieles nur mehr wie eine Wiederholung anfühlte. Natürlich war es immer noch schön, im Team am Ende eines ME-Wochenendes die strahlenden und dankbaren Paare mitzuerleben. Unser Hochgefühl nach solchen Erlebnissen nutzte sich dennoch ab, weil wir unsere Geschichten nun schon so oft erzählten, dass sie uns nicht mehr so stark bewegten wie früher.
Wir begleiteten damals sehr viele Paare bei der Vorbereitung von Impulsen für Monatstreffen und verschiedenen Wochenenden. Immer mehr hatten wir jedoch das Gefühl, dabei ausgenutzt zu werden. Nicht selten bekamen wir von Paaren zwei Tage vor unserem Treffen einen Entwurf für einen Impuls, bei dem keine fünf Sätze brauchbar waren. Wir waren mittlerweile dafür bekannt, dass wir durch geschicktes Nachfragen und gleichzeitiges Niederschreiben aus diesen wenigen Sätzen innerhalb eines Abends einen tollen Impuls zauberten. Das war aber nicht das, was wir wollten. Wir wollten, dass sich die uns anvertrauten Menschen wirklich mit ihrem Leben auseinander setzten.
Dieser spannende und lange Zeit wertvolle Dienst des Begleitens bekam nun für uns einen schalen Beigeschmack. Uns fiel es in unseren großen Verantwortungen überhaupt nicht schwer, in unserer Begeisterung Menschen für Dienste wie z.B. die Leitung eines Monatstreffenstandortes oder die Gestaltung einer Adventmesse zu gewinnen, weil wir diese Dienste selber immer so lebten, dass sie unsere Beziehung stärkten und nicht nur Arbeit waren. Wir beobachteten aber, dass die Dienste, die eigentlich alle dazu gedacht waren, um mehr Beziehung zu leben, zu etwas verkümmerten, was es möglichst effizient zu organisieren galt. Damit fühlten wir uns inmitten der vielen Menschen, die uns alle mochten und zugetan waren, trotzdem mehr und mehr einsam, mit unseren vielleicht zu hohen Idealen. Natürlich war das nicht überall so. Es gab schon einen harten Kern, der nach wie vor voller Begeisterung war und wirklich intensiv Beziehung lebte (und das heute noch tut).
Dazu zählten auch Gitti, Pütti, die damals mit Michael die Österreichverantwortung übernahmen. Deshalb sagten wir ihnen unsere Unterstützung als erweitertes Ö-Team zu. Das hieß für uns, alle ein bis zwei Wochen, meistens am Mittwoch Nachmittag, nach Graz zu fahren. Obwohl wir versuchten, den persönlichen Austausch in den Vordergrund zu stellen, war das angesichts der vielen anstehenden Themen und Entscheidungen, die zu treffen waren, zeitlich fast unmöglich. Es ging in unseren Gesprächen vielmehr um Marketing, Internetauftritt, Vorbereitung von österreichweiten Veranstaltungen, die Überarbeitung von Leitfäden, oder wer für welche Dienste angefragt werden sollte. Ich organisiere und manage grundsätzlich ja nicht ungern, aber trotzdem war das nicht mehr stimmig.
Besonders schwierig war das für Ingrid. Nach der Ankommrunde fühlte sie sich nur mehr als Anhängsel, weil das nicht ihre Themen waren. Ihre Stärken lagen im Kontakt mit Menschen und vor allem im Zuhören, aber nicht bei diesen organisatorischen Themen. Als wir an einem Mittwoch Nachmittag von Graz nach Hause fuhren und ich Ingrid fragte, wie es ihr geht, brach sie für mich völlig unerwartet in Tränen aus und schrie heraus, dass sie das alles nicht mehr will. Natürlich haben wir auch früher schon darüber gesprochen, wie schwer es ihr fiel, sich bei diesen Themen einzubringen, aber dass es so schlimm war, war mir nicht bewusst. Für mich war klar, das hieß erst einmal aus diesem Dienst auszusteigen.
Wir waren in unserer Begeisterungsfähigkeit nach wie vor für viele ein Vorbild. Dass wir uns wie aus dem Nichts nun zurück ziehen wollten, war für die meisten unerklärlich. „Da muss es eine große Verletzung gegeben haben“, so war der (falsche) Eindruck, den wir hinterließen. Gleichzeitig war genau dieser von uns ausgelöste Aufruhr eine Gelegenheit, um tatsächlich wieder einmal inne zu halten und hinein zu spüren, was nun für uns an ME-Diensten noch stimmig war und was nicht.
Und ja, da gab es noch etwas, was für uns nicht mehr stimmig war. Wir haben in den letzten Jahren sehr viel aufgearbeitet, indem wir bei unseren Impulsen über unsere inneren Konflikte, unser mangelndes Vertrauen, um die verpassten Gelegenheiten einander zuzuhören, über unsere Unterschiedlichkeit in unserer Sexualität, etc. sprachen. Wir stellten nun allerdings fest, dass wir da irgendwie heraus gewachsen sind. Es wurde immer schwieriger, passende Beispiele zu finden, mit denen wir andere Paare berühren konnten, ohne damit tief zu stapeln und noch authentisch zu sein.
Dies bedeutete für uns, dass wir auch den Dienst als Teampaar zurücklegten. Bei den Monatstreffen erlebten wir schon länger nicht mehr das, was für uns eigentlich ME bedeutete. Ohne zu diesen Treffen zu gehen, machte auch der Mitarbeiterkreis in unserer Region für uns keinen Sinn mehr. Damit legten wir quasi eine Vollbremsung hin, die keiner nachvollziehen konnte. Für uns war es trotzdem stimmig, weil wir uns damit selber treu blieben. Ja, vielleicht war es die wichtigste Zeit unseres Lebens – und trotzdem ist das Leben Veränderung. Die Werte, die wir so lange Zeit sehr intensiv lebten, sind nach wie vor tief in uns verankert und wir schätzen ME immer noch sehr, obwohl wir kaum mehr aktiv mitarbeiten.
“Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.”