00_Vorwort

Seit mehr als 10 Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, meine bisherige Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im Dezember 2022, war offensichtlich der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen. Ich begann einfach irgendwo mittendrin und schrieb, was mich gerade bewegte, bis sich alles zu einem Ganzen zusammenfügte.

Wir waren 5 Geschwister, unsere Mama war zu Hause bei uns Kindern und mit unserer kleinen Landwirtschaft in Höbmannsdorf 3 beschäftigt. Das Geld war eher knapp, aber Papa arbeitete als LKW-Fahrer und Akkord-Arbeiter immer hart, sodass es uns materiell an nichts fehlte. Das Aufwachsen war gänzlich anders, als bei unseren eigenen Kindern oder unseren Enkelkindern. Mit Schwierigkeiten wurden wir größtenteils selber fertig.

Wie war denn nun meine Kinder- und Jugendzeit wirklich? Als ich mit dem Schreiben begann, erinnerte ich mich als erstes an so manches Trauma, welches ich durchlebte. Deshalb war ich der Meinung, dass ich ein schwieriges Aufwachsen hatte. Umso mehr ich reflektierte, umso bewusster wurde mir, dass bei weitem nicht alles schwer war. Die schönen Ereignisse waren allerdings in meiner Erinnerung, wie hinter einem grauen Schleier versteckt, obwohl ich letzten Endes feststellte, dass es diese genauso gab. 

Es ist Ehrfurcht in mir, wenn ich an die Generationen vor mir denke, die ganz andere und viel existenziellere Sorgen hatten, als wir heute. Unsere Eltern und davor unsere Großeltern legten den Grundstein dafür, dass wir uns heute den Luxus leisten können, uns mit unseren Gefühlen zu beschäftigen. Dafür ein aufrichtiges und großes DANKE!

Trotz, oder gerade wegen mancher unangenehmer, tiefgreifender Erfahrungen, die mich stark gemacht haben, blicke ich dankbar zurück. Nicht
nur die schönen Momente, sondern vielmehr die Herausforderungen, mit denen ich umzugehen lernte, haben mich im aller positivsten Sinne zu dem gemacht, der ich heute bin. 

In der Online-Version habe ich übrigens jene Kapitel weggelassen, bei denen es mir besonders wichtig ist zu wissen, wer diese liest.

 

08_Ausgerastet

Situationen, in denen ich nicht mehr Herr meiner Sinne war, gab es immer wieder mal in meinem Leben. Ausgelöst wurden diese, wenn ich mir bloß
gestellt vorkam, aber vor allem, wenn meine Angst ausgegrenzt oder erniedrigt zu werden zu unerträglich wurde.

Einmal setzte ich mich dabei gegen meinen älteren Bruder richtig zur Wehr. Ich wollte mir einen Film fertig anschauen und Fredi schaltete wie so oft auf einen anderen Sender (damals noch ohne Fernbedienung). Diesmal wollte ich einmal Recht haben und ich versuchte, mich gegen ihn durchzusetzen. Ich wollte auf meinen Sender zurück schalten, aber Fredi drängte mich vom Fernseher weg. Er ließ mir durch seine körperliche
Überlegenheit einfach keine Chance, dieses Duell zu gewinnen. Es war dieser berühmte eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wutentbrannt lief ich aus dem Wohnzimmer, um noch wütender mit der Heugabel zurück zu kehren. Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn Fredi dann nicht geflüchtet wäre.

 

“Nicht alle Wunden sind sichtbar.
Bewege dich vorsichtig im Leben anderer.”

31_Lebenssinn

Im Jahr 2019 rutschte ich in eine tiefe Sinnkrise, wie ich sie bisher nicht kannte. Ingrid und ich redeten tatsächlich oft darüber, was der Sinn, oder
MEIN Sinn des Lebens sein könnte. Das einzige, was mir dazu einfiel war, dass ich ihr materiell ein gutes Leben bieten konnte. Aber war das wirklich alles? Fernreisen interessierten mich nicht und ansonsten habe ich offensichtlich schon alles erlebt, was es zu erleben gab. Es war, als wartete ich nur noch auf’s Sterben.

Dieser immer wieder kehrende Gedanke beunruhigte mich mit meinen gut fünfzig Jahren und machte mir Angst. Ich kam mir nutzlos vor und zog mich innerlich zurück. Dazu kamen dann auch noch körperliche Beschwerden, die meinem Bewegungsmangel und dem vielen Sitzen im Büro geschuldet waren. Alte, mir gut bekannte Ängste, dass ich schwer krank sein könnte, tauchten wieder auf.

Ingrid hatte eine sehr große Nähe zu Johanna, die ich ihr wirklich gönnte. Sie war nicht nur beim Babysitten, sondern auch am Hof gefragt, während ich mich als Anhängsel fühlte, das man halt mitnehmen musste, weil es Ingrid ohne mich oft nicht zu haben gab. Dass ich zu Johanna keinen Zugang hatte, weil sie mich mehr oder weniger vollständig ignorierte, tat mir weh. Ich versuchte, mir das möglichst wenig anmerken zu lassen, um mich nicht auch noch irgendwelchen Diskussionen stellen zu müssen. Ich war an meine eigene Kindheit erinnert, um nicht zu sagen, darauf zurückgeworfen.

Obwohl Johanna das Kind war und nicht ich, fühlte es sich genau umgekehrt an. Ich bettelte um ihre Zuneigung, hatte aber keine Chance. Sie bestimmte, wem sie ihre Zuneigung schenkte und wem nicht. Die einzige Möglichkeit, um das so halbwegs zu überstehen war, mich auch von ihr innerlich abzugrenzen. Das linderte meinen Schmerz ein bisschen, wenngleich es dadurch auch nicht besser werden konnte. Ich schämte mich für meine eigene Reaktion, konnte aber trotzdem nicht aus meiner Haut.

Dass diese schweren Gedanken mitunter eine Ursache meiner Sinnkrise waren, wird mir erst jetzt beim Schreiben so richtig bewusst. Ich redete zwar mit Ingrid ab und zu über meinen Schmerz des ausgegrenzt seins, relativierte es aber gleich selber wieder, so nach dem Motto, das sind halt Kinder, da muss man drüber stehen. Doch diese Wunde ist schon viel älter, wie mir nun beim Reflektieren meines Lebensfadens bewusst wird.

Das latente Gefühl des Ausgegrenzt seins wurde durch die Baustelle von Christian wieder ganz gut betäubt. Es löste sich aber erst, als mich Lena sozusagen als ihren Opa entdeckte. Sie war weniger kontaktscheu als Johanna. Ich hatte den Eindruck, dass sie Johanna’s Ehrgeiz weckte, die mich quasi nicht kampflos an Lena abgeben wollte. Ich freue mich total, wenn ich daran denke, dass ich mittlerweile bei beiden unserer lieben Enkel als Opa gefragt bin. Ich freue mich, dass sie sich gerne auf meinen Schoß setzen und nach mir fragen, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich freue mich auch über unsere Leichtigkeit und Unbeschwertheit, wenn wir gemeinsam Party machen.

Wenn ich in die fröhlichen Kinderaugen von Johanna und Lena schaue und dazu ein bisschen etwas beitragen kann, dann spüre ich meinen Lebenssinn wieder recht gut. Aber auch wenn ich an unsere Kinder und Schwiegerkinder denke spüre ich Sinn. Obwohl ich bestimmt nicht immer gleichermaßen gefragt bin, habe ich doch den Eindruck, dass ich ihnen eine gewisse Sicherheit geben kann. Familie ist für mich eigentlich der höchste Wert und Lebenssinn. Aber ich kann nun auch meinen Lebenssinn in der Beziehung zu Ingrid wieder mehr spüren, den es natürlich immer gab. Aktuell freue ich mich über unser drittes Enkerl Lukas. Ich stelle mir gerade bildhaft vor, wie er gerade das erste mal selbständig ins Opa-Oma-Haus kommt, auf den Zehenspitzen stehend die Hand ganz nach oben strecken muss, um die Haustürglocke zu erreichen und zu uns herein kommen möchte. 🙂

 

„Schönes lieben, Gutes wollen, das Beste tun. Das ist die Bestimmung des Menschen.“

30_Neuausrichtung

Als wir uns von unseren ME-Aktivitäten im Dezember 2013 mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen zurückzogen, war uns sehr schnell klar, dass sich durch diese Entscheidung unser ganzes Leben neu ausrichten wird. Beteuerungen wie, „wir hoffen, dass unser Kontakt nicht abreißt,…“ waren für mich von Anfang an leere Floskeln, obwohl ich mir das beim einen oder anderen gewünscht hätte.

Freundschaft verstand ich immer so, dass wir auf unserem Weg Menschen trafen, welche das gleiche Ziel hatten. Wir begleiteten uns gegenseitig auf diesem Weg, tauschten über unsere Erfahrungen aus, stellten dabei fest, dass wir die gleichen Werte hatten und gaben uns somit gegenseitig Sicherheit. Wir waren auf diesem Stück des Weges füreinander da. Basis für die Freundschaften war aber immer ein gemeinsames Ziel. Gab es das nicht mehr, lösten sich diese Freundschaften unausweichlich auf. Dennoch gibt es noch ein paar Menschen aus unserer aktiven ME-Zeit, mit denen wir uns in größeren Abständen treffen und auch verbunden fühlen.

Wirklich überlebt hat unseren Rückzug von ME nur die Freundschaft zu Karin und Lois. Die beiden sind die einzigen, die bis heute immer noch Interesse an uns haben, mit denen wir uns in unregelmäßigen Abständen treffen und gemeinsam unser Leben reflektieren. Die Verbindung zu ihnen blieb offensichtlich, weil sie sich nicht nur auf unser gemeinsames Engagement beschränkte, sondern weil zwischen uns eine sehr persönliche Herzensverbindung gewachsen ist, welche sich durch gegenseitiges Wohlwollen, Wertschätzung, Mittragen und Mitfreuen auszeichnet. Oft saßen wir mit Karin und Lois zu viert an einem Tisch, ohne uns ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Wir tauschten über unsere tiefsten Sehnsüchte und Wünsche, bis hin zum Bereich unserer Sexualität aus, aber auch über unsere Ängste und Sorgen – z.B. was unsere Familien, unsere Gesundheit oder unserer Älterwerden betrifft. Nach einem Treffen mit den beiden waren wir nicht selten geflasht von diesem gegenseitigen, einzigartigen, großartigen und unbeschreiblichen Vertrauen, welches uns im Gespräch immer wieder auch einen nächsten Schritt bewusst werden lies – bis heute.

Karin und Lois sind für uns Freunde, bei denen wir so sein dürfen, wie wir sind, die uns zuhören, aber nicht versuchen uns zu belehren, denen wir uns ohne Angst aus ihrer Liebe zu fallen mit unseren Schattenseiten zumuten dürfen und die uns ebenso intensiv an ihrem Leben teilhaben lassen. Der Abschied von der großen ME-Gemeinschaft, die uns über so viele Jahre so wertvoll war, hinterließ dennoch erst einmal eine gewisse Leere. Es war ungewohnt und aufregend, wenn wir daran dachten, was uns nun Neues erwarten wird. Trotzdem gingen uns immer wieder Gedanken durch den Kopf wie, „war es wirklich die richtige Entscheidung? werden wir jetzt zu Einzelgängern?“

Wenn wir uns hinein spürten, war sehr schnell wieder klar, das Alte musste abgestreift werden, auch wenn das Neue noch nicht ganz da war. Obwohl wir auch früher schon gerne wanderten, entdeckten wir die Berge als unsere neue Leidenschaft. Im Jahr 2014 waren wir sowohl im Sommer, als auch im Winter auf über 40 Gipfel in unserer schönen Heimat unterwegs. In der Natur unterwegs zu sein, gab uns viel Kraft. Im Jahr 2015 stiegen wir dann auf’s E-Bike um. Das war nicht nur Sport, sondern Gelegenheit für unzählige tiefgehende Gespräche, die wir dabei führten. Ich erinnere mich heute noch gerne an diese wunderschöne und bewegende Zeit. Trotzdem schwang auch immer ein wenig schlechtes Gewissen mit. Die Jahre davor war es unsere gemeinsame Leidenschaft, anderen Paaren zu helfen, jetzt genossen wir einfach nur unsere Freiheit und unsere Zweisamkeit. „Dürfen wir das wirklich?“, fragten wir uns manchmal. Wir mussten uns eingestehen, dass sich etwas, was wir so lange mit so einer Leidenschaft lebten, nicht von heute auf Morgen abstreifen ließ. Unser Lebensweg ging aber trotzdem unaufhaltsam in eine neue Richtung.

2016 begann Ingrid ihre Ausbildung zur Atemtherapeutin. Sie steckte mich mit ihrer Begeisterung rasch an, sodass ich das erste Jahr dieser Ausbildung mit dabei war, wobei es in erster Linie um Selbsterfahrung ging. Wir begleiteten uns sogar gegenseitig bei unseren Atemsitzungen. Das war noch einmal ein ganz neues, ziemlich intensives Gefühl von Vertrauen, wenn es darum ging, uns gegenseitig bis in den letzten Winkel unserer Seele schauen zu lassen, ohne vorher zu wissen, was kommen wird. Manchmal sogar unter Tränen oder anderen unerwarteten Gefühlsausbrüchen. Durch unser gegenseitiges öffnen in unseren Atemsitzungen erleben wir sehr viel Heilung – bis heute.

Ingrid meldete sogar das Gewerbe an, um ihrer Tätigkeit als Atemtherapeutin nachzugehen. Ich war sehr froh, dass sie damit etwas gefunden hatte, was ganz ihren Talenten und Fähigkeiten entsprach und Lebenssinn hat. Mit ihren wenigen Klienten steht sie dabei meist über längere Zeit in einer sehr intensiven Verbindung, die weit über ihre Sitzungen hinaus geht. Ähnlich wie bei ME geht es dabei um das Teilen ihrer Liebe und nicht um’s Geschäft.

„Wenn du nichts änderst, ändert sich nichts.“

29_Meine großen Leidenschaften

Es gab und gibt in meinem Leben immer irgend etwas, was mich begeistert, fasziniert, fesselt und lebendig hält. Als Kind war es z.B. das Schifahren lernen mit den übergroßen Schuhen, von denen ich geschrieben habe, oder das Traktorfahren. In meiner Jugend war es vor allem das Schachspielen und mein Engagement im Glauben an Gott.

Meine ganz große Leidenschaft in den letzten 35 Jahren ist Ingrid. Mit ihr ein Paar zu sein und sie jeden Tag immer noch ein bisschen besser kennen zu lernen und zu erforschen, sie in ihrem Sein begleiten zu dürfen, ist überhaupt das größte Geschenk, das ich mir vorstellen kann. Dafür bin ich heute noch jeden Tag dankbar. Sie ist die einzige wirkliche Leidenschaft, die sich beständig durch all die Jahrzehnte zieht und es scheint, als würde sie immer noch intensiver und größer werden.

Über lange Strecken waren es die Herausforderungen in der Firma, natürlich auch das Heranwachsen unserer Kinder, oder so mancher Fortschritt bei einem der regelmäßig wechselnden Hobbys, was mich am Abend glücklich einschlafen ließ. Nicht zuletzt war unser Engagement bei Marriage Encounter eine der größten Leidenschaften, in die Ingrid und ich unsere ganze Aufmerksamkeit, Energie und Zeit investierten.

„Leben volle Kanne“ ist für mich nicht nur ein Spruch, sondern eine Lebenseinstellung, die ich mir bis heute weitgehend behalten konnte.
Meine/unsere Hobbys waren nie von langer Dauer, aber immer extrem intensiv. Ebenso, wie ich einige Jahre jede freie Minute in das Lernen der
Steirischen Harmonika investierte (auch wenn ich dafür kein Talent hatte), fuhren wir mit dem Motorrad jede einzelne der österreichischen Passstraßen ab, zogen durch die Dolomiten und umrundeten Korsika mit unbändiger Faszination und Freude.

Nach drei Jahren hatten wir dieses Thema durch und ersetzten das Motorrad mit dem E-Bike. Im ersten Jahr sollten es gleich mal 10.000 km und 100.000 Höhenmeter sein, die wir in etwa fuhren, anschließend richteten wir uns unseren Ausflugsbus ein und seit zwei Jahren fasziniert mich die Fotografie. Ich könnte stundenlang vor dem Bildschirm sitzen und nur ein einziges Foto anschauen, welches mir gut gelungen ist und schlafe mit dieser Freude am Abend auch oft ein.

Ich beobachte, dass manche Menschen ein halbes Leben nach der einzig richtigen Leidenschaft suchen, um diese dann festzuhalten, obwohl der Reiz daran längst verflogen ist. Wieder andere haben viele Hobbys, viele sogenannte Freunde und es fehlt ihnen aber die Zeit, sich für etwas mit voller Leidenschaft zu engagieren, womit das Leben dann entweder ziemlich flach oder stressig verläuft. Mein Zugang war und ist es, möglichst keine halben Sachen zu machen und meine Energie und Leidenschaft darauf zu konzentrieren, was mir am wichtigsten ist. Meistens gelingt es mir recht gut, alles andere weitgehend wegzulassen. Damit hatte ich in meinem Leben auch nie wirklich zu wenig Zeit, worüber viele meiner Bekannten ständig klagten.

Wenn eine meiner Leidenschaften es nicht mehr Wert ist, so bezeichnet zu werden, dann gibt es auch kein Festhalten, sondern es darf sich Neues entwickeln. Für mich persönlich ist diese offene und nach vorne gerichtete Haltung ein wichtigster Baustein für ein glückliches Leben.

28_Großes Engagement bei ME

Ingrid und ich waren von ME so begeistert, dass wir keine Gelegenheit ausließen, um uns aktiv einzubringen. 

Eine besondere Ehre war es uns, als wir eingeladen wurden, Teampaar bei den ME-Wochenenden zu werden. Bei der ersten Serie ging es nur um drei Impulse, die wir ausarbeiten sollten. Trotzdem waren wir unsicher, ob wir das wirklich können. Besser gesagt, wir fühlten uns damit trotz aller Ehre völlig überfordert. Gerti und Franz, die uns bei der Ausarbeitung dieser Impulse ihre Begleitung anboten, machten uns glaubhaft, dass sie uns das tatsächlich zutrauen und dass sie sich sogar freuen würden, wenn wir gemeinsam bei einem ME Wochenende im Team sein würden.

„Wow, warum gerade wir?!“ Die beiden sahen etwas in uns, was wir überhaupt nicht nachvollziehen konnten. Dennoch hatte die Sache ihren Reiz. Gerti und Franz waren für uns Vorbilder und wir wollten die Chance nicht auslassen, sie öfter zu treffen, um von ihnen zu lernen. Schließlich einigten wir uns darauf, dass wir die Impulse schreiben, was für gewöhnlich ungefähr ein Jahr in Anspruch nahm und wir anschließend entscheiden durften, ob wir damit tatsächlich auf’s ME Wochenende gehen. Das war ein großes Zugeständnis von Gerti und Franz, weil sie sehr viel Energie und Zeit in uns investierten, ohne zu wissen was dabei herauskommt. Wir verbrachten einige Wochenenden bei den beiden in der Steiermark, ohne nur einen Buchstaben zu schreiben.

Es ging vorerst ausschließlich darum, unser Leben und unsere Beziehung ausgiebig zu reflektieren und bis in den allerletzten, dunkelsten Winkel zu beleuchten. An einem Samstag tauschten wir mit den beiden 11 Stunden ununterbrochen über unsere destruktiven Verhaltensmuster, unsere Stärken und Schwächen, unser Zuhören, unsere Sexualität, unser gegenseitiges Vertrauen, unsere Kommunikation, etc. aus. Die Mahlzeiten bereitete Gerti ganz nebenbei zu und das Gespräch ging selbst beim Essen weiter. Am späten Nachmittag schlief Franz dann direkt beim Tisch sitzend ein und schnarchte leise vor sich hin. Das war für uns eigentlich ein Zeichen, dass wir die Gastfreundschaft der beiden nun endgültig überstrapazierten. Gerti ließ jedoch nicht locker und meinte, „da denkt er nur ganz intensiv nach“. Wir waren so auf der Welle, dass wir das in diesem Moment tatsächlich glaubten und unterbrechungslos weiter redeten.

Es waren unzählige Therapiestunden, die wir von den beiden geschenkt bekamen und die wir niemals bezahlen hätten können. Auf dem Heimweg waren wir jedes Mal wie in Trance und voller neuer Erkenntnisse, die wir unbedingt umsetzen wollten. Und doch war es keine Therapie, es war viel mehr! Es war bedingungslose Liebe, die uns Gerti und Franz über so lange Zeit schenkten. Sie hörten uns mit dem Herzen zu, bestärkten uns, förderten uns und hielten mit ihren eigenen Erfahrungen nicht hinter dem Berg. Wir fühlten uns von den beiden angenommen und geliebt, bis in die dunkelsten Ecken unseres Seins. Irgendwann gaben wir ihnen dann den Titel unserer „ME-Eltern“.

Auf die Frage, wie wir das jemals zurück geben können meinte Gerti, „gar nicht – das ist ja auch nicht der Sinn. Gebt es dort weiter, wo IHR steht, in eurer Familie, bei euren Freunden, in der Firma, dann bleibt die Liebe im Fluss“. So konnten wir das gut annehmen. Gerti und Franz lehrten uns mit ihrem eigenen Leben, dass Liebe kein Tauschgeschäft, sondern ein Geschenk ist, mit dem wir die Welt ein Stück liebender machen können. Dieser Gedanke, wie die Liebe im Fluss bleibt, ohne einander etwas schuldig zu bleiben, faszinierte uns und bekam eine sehr große Bedeutung in unserem Leben, egal ob ich dabei an unsere Kinder denke, oder an die vielen Paargespräche, in denen wir uns später ebenfalls entschieden, für andere da zu sein.

Im November 2004 war es dann tatsächlich so weit. Wir waren zum ersten mal im Team eines ME-Wochenendes am Salzburger Mönchsberg. Als wir dort unsere Geschichte in all den persönlichen Details erzählen durften, war das auch Therapie für uns. Wir erhielten sehr viele positive Rückmeldungen, nicht zuletzt von Eva und Adi, die an diesem Wochenende teilnahmen. Durch diese positive Erfahrung motiviert, folgten weitere ME-Wochenenden, wir erarbeiteten in den folgenden Jahren die zweite und dritte Serie der Impulse und stiegen damit in die Fußstapfen unserer Vorbilder.

Meine Angst, vor anderen Menschen etwas sagen zu müssen schwand mehr und mehr, sodass wir uns sogar die Verantwortung für die Region Oberösterreich/ Salzburg zutrauten und im erweiterten Ö-Team waren. Wir leiteten das Sexualitätswochenende und nun waren wir diejenigen, die andere Paare begleiten und fördern durften, so wie wir damals gefördert wurden. Ingrid und ich gingen in diesen Aufgaben voll auf. Nicht selten hatten wir 4 Abendtermine in der Woche, an denen Paare zum Gespräch zu uns nach Hause kamen.

In Gmunden bauten Ingrid und ich einen neuen Monatstreffenstandort auf, zu dem manchmal mehr als 16 Paare kamen, sodass wir vom Kapuzinerkloster in den größeren Pfarrsaal wechseln mussten. Nachher gab es so einen Zuwachs bei den Monatstreffen in ganz Österreich nie wieder. Grundlage dafür war, dass wir so viel Energie wie irgendwie möglich in dieses Projekt steckten und für die Paare auch zwischen den Treffen da waren, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oft ganz bewusst für jene, die es am wenigsten von uns erwarteten.

Wir wurden bewundert und gleichzeitig auch gewarnt, weil sich kaum jemand vorstellen konnte, dass wir dieses große Engagement auf Dauer durchhalten würden und wir irgendwann einmal ausbrennen könnten. Es war jedoch gar nicht unsere Absicht, irgend etwas durchzuhalten. Wir lebten im JETZT und jetzt fühlte es sich richtig an!

„Leben volle Kanne“, war ein langjähriges Lebensmotto von uns. Uns war von Anfang an klar, dass diese große Gruppe in Gmunden genau so
schnell wieder verschwinden wird, wie sie sich bildete, sobald unser Engagement nachlässt, das machte uns aber nichts aus. Wir hatten eine
lebendige Gemeinschaft mit Gleichgesinnten um uns, wirklich gute Freude und wir reflektierten uns bei den zahlreichen Veranstaltungen und
Paarabenden regelmäßig. Das war eine ziemlich gute Basis für ein glückliches Leben und Grund genug, unsere Energie und Liebe mit diesen Menschen zu teilen.

Unsere so intensive ME-Zeit dauerte rund 12 Jahre. Rückblickend war es eine unvergesslich schöne und sinnerfüllte Zeit, geprägt von großem persönlichem Wachstum, bei dem ich viele alte Verletzungen aufarbeiten und mich gemeinsam mit Ingrid entfalten und meine Persönlichkeit entwickeln konnte.

Zu Beginn dieser Zeit war Michael 6 Jahre alt. Wir fragten uns oft, ob wir unsere Kinder durch unsere große Begeisterung für ME vernachlässigten. Ich erinnere mich noch gut an diese innere Zerissenheit, habe jedoch keine einzige Wahrnehmung dazu, dass es unseren Jungs zu viel gewesen wäre. Im Gegenteil, als Ingrid einer Nachbarin vom ME-Wochenende erzählte, stieg Michael mit seinen damals 8 Jahren voller Begeisterung ins Gespräch ein und sagte, „da musst du hin, das ist was Gscheites“.

Gerade wegen unserer Kinder fühlten wir uns neben den Zweifeln auch bestärkt, diesen Weg so intensiv zu gehen. Mir war schon sehr bald bewusst, dass wir sie nicht erziehen können, in dem wir ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Letzten Endes zählte nur das, was wir ihnen vorlebten.

So schien auch die Absicht der Gründer von ME aufgegangen zu sein: „Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut“. Dennoch hat alles seine Zeit. Genauso wie ich jedes meiner Hobbys wie Harmonikaspielen, Motorradfahren, E-Biken, etc. einige Jahre mit voller Leidenschaft verfolgte und dann aufhörte und mir etwas Neues suchte, war klar, dass wir auch bei ME nicht ewig so engagiert sein werden. Es war schon etwas Tieferes, aber wir waren und sind nach wie vor keine „Dauertypen“.

Das Ende unserer intensiven ME-Zeit bahnte sich an, als wir in den zehn Jahren ME quasi alles erlebt hatten, was es zu erleben gab. Es gab kaum einen Dienst, den wir in diesen Jahren nicht inne hatten, womit sich vieles nur mehr wie eine Wiederholung anfühlte. Natürlich war es immer noch schön, im Team am Ende eines ME-Wochenendes die strahlenden und dankbaren Paare mitzuerleben. Unser Hochgefühl nach solchen Erlebnissen nutzte sich dennoch ab, weil wir unsere Geschichten nun schon so oft erzählten, dass sie uns nicht mehr so stark bewegten wie früher.

Wir begleiteten damals sehr viele Paare bei der Vorbereitung von Impulsen für Monatstreffen und verschiedenen Wochenenden. Immer mehr hatten wir jedoch das Gefühl, dabei ausgenutzt zu werden. Nicht selten bekamen wir von Paaren zwei Tage vor unserem Treffen einen Entwurf für einen Impuls, bei dem keine fünf Sätze brauchbar waren. Wir waren mittlerweile dafür bekannt, dass wir durch geschicktes Nachfragen und gleichzeitiges Niederschreiben aus diesen wenigen Sätzen innerhalb eines Abends einen tollen Impuls zauberten. Das war aber nicht das, was wir wollten. Wir wollten, dass sich die uns anvertrauten Menschen wirklich mit ihrem Leben auseinander setzten.

Dieser spannende und lange Zeit wertvolle Dienst des Begleitens bekam nun für uns einen schalen Beigeschmack. Uns fiel es in unseren großen Verantwortungen überhaupt nicht schwer, in unserer Begeisterung Menschen für Dienste wie z.B. die Leitung eines Monatstreffenstandortes oder die Gestaltung einer Adventmesse zu gewinnen, weil wir diese Dienste selber immer so lebten, dass sie unsere Beziehung stärkten und nicht nur Arbeit waren. Wir beobachteten aber, dass die Dienste, die eigentlich alle dazu gedacht waren, um mehr Beziehung zu leben, zu etwas verkümmerten, was es möglichst effizient zu organisieren galt. Damit fühlten wir uns inmitten der vielen Menschen, die uns alle mochten und zugetan waren, trotzdem mehr und mehr einsam, mit unseren vielleicht zu hohen Idealen. Natürlich war das nicht überall so. Es gab schon einen harten Kern, der nach wie vor voller Begeisterung war und wirklich intensiv Beziehung lebte (und das heute noch tut).

Dazu zählten auch Gitti, Pütti, die damals mit Michael die Österreichverantwortung übernahmen. Deshalb sagten wir ihnen unsere Unterstützung als erweitertes Ö-Team zu. Das hieß für uns, alle ein bis zwei Wochen, meistens am Mittwoch Nachmittag, nach Graz zu fahren. Obwohl wir versuchten, den persönlichen Austausch in den Vordergrund zu stellen, war das angesichts der vielen anstehenden Themen und Entscheidungen, die zu treffen waren, zeitlich fast unmöglich. Es ging in unseren Gesprächen vielmehr um Marketing, Internetauftritt, Vorbereitung von österreichweiten Veranstaltungen, die Überarbeitung von Leitfäden, oder wer für welche Dienste angefragt werden sollte. Ich organisiere und manage grundsätzlich ja nicht ungern, aber trotzdem war das nicht mehr stimmig.

Besonders schwierig war das für Ingrid. Nach der Ankommrunde fühlte sie sich nur mehr als Anhängsel, weil das nicht ihre Themen waren. Ihre Stärken lagen im Kontakt mit Menschen und vor allem im Zuhören, aber nicht bei diesen organisatorischen Themen. Als wir an einem Mittwoch Nachmittag von Graz nach Hause fuhren und ich Ingrid fragte, wie es ihr geht, brach sie für mich völlig unerwartet in Tränen aus und schrie heraus, dass sie das alles nicht mehr will. Natürlich haben wir auch früher schon darüber gesprochen, wie schwer es ihr fiel, sich bei diesen Themen einzubringen, aber dass es so schlimm war, war mir nicht bewusst. Für mich war klar, das hieß erst einmal aus diesem Dienst auszusteigen. 

Wir waren in unserer Begeisterungsfähigkeit nach wie vor für viele ein Vorbild. Dass wir uns wie aus dem Nichts nun zurück ziehen wollten, war für die meisten unerklärlich. „Da muss es eine große Verletzung gegeben haben“, so war der (falsche) Eindruck, den wir hinterließen. Gleichzeitig war genau dieser von uns ausgelöste Aufruhr eine Gelegenheit, um tatsächlich wieder einmal inne zu halten und hinein zu spüren, was nun für uns an ME-Diensten noch stimmig war und was nicht.

Und ja, da gab es noch etwas, was für uns nicht mehr stimmig war. Wir haben in den letzten Jahren sehr viel aufgearbeitet, indem wir bei unseren Impulsen über unsere inneren Konflikte, unser mangelndes Vertrauen, um die verpassten Gelegenheiten einander zuzuhören, über unsere Unterschiedlichkeit in unserer Sexualität, etc. sprachen. Wir stellten nun allerdings fest, dass wir da irgendwie heraus gewachsen sind. Es wurde immer schwieriger, passende Beispiele zu finden, mit denen wir andere Paare berühren konnten, ohne damit tief zu stapeln und noch authentisch zu sein.

Dies bedeutete für uns, dass wir auch den Dienst als Teampaar zurücklegten. Bei den Monatstreffen erlebten wir schon länger nicht mehr das, was für uns eigentlich ME bedeutete. Ohne zu diesen Treffen zu gehen, machte auch der Mitarbeiterkreis in unserer Region für uns keinen Sinn mehr. Damit legten wir quasi eine Vollbremsung hin, die keiner nachvollziehen konnte. Für uns war es trotzdem stimmig, weil wir uns damit selber treu blieben. Ja, vielleicht war es die wichtigste Zeit unseres Lebens – und trotzdem ist das Leben Veränderung. Die Werte, die wir so lange Zeit sehr intensiv lebten, sind nach wie vor tief in uns verankert und wir schätzen ME immer noch sehr, obwohl wir kaum mehr aktiv mitarbeiten.

 

“Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.”