In unserer neuen Offenheit und durch die Ermutigung von Gerti und Franz war es uns nun möglich, so manches, ganz heiße Eisen anzugehen. Ein solches Beispiel möchte ich gerne erzählen, weil hier tatsächlich so viel an Heilung geschehen ist, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Es ging um mein verletzendes Verhalten Ingrid gegenüber, wenn wir auf der Baustelle waren, wovon ich weiter oben bereits schrieb. Das war für mich deswegen ein heißes Eisen, weil ich mich dafür schämte. Ich wusste, dass mein Verhalten nicht OK war, schaffte es aber trotzdem nicht, mich zu ändern. An einem Freitag Abend vertraute ich mich Ingrid in einem Brief an, wie es mir damit wirklich ging. Als ich ihr diesen Brief übergab, war ich unsicher, ob sie mich wirklich verstehen kann. „Ich war ja sozusagen der Täter und Ingrid die eigentlich Leidtragende. Und jetzt soll sie auch noch Verständnis für mich haben?“
Erwartet hätte ich mir, dass sie mir sagt, dass es wirklich schlimm war. Im allerbesten Fall hätte ich mir erwartet, dass wir gemeinsam darüber reden, was mir in solchen Situationen helfen könnte, damit ich künftig weniger ärgerlich bin. Aber auch das kam zu meiner Überraschung nicht.
Ingrid nahm mich an den Händen und sagte „Danke für dein Vertrauen, das muss dir ziemlich schwer gefallen sein.“ Sie stellte mir einige Fragen, um mich noch besser zu verstehen, wie z.B. „wie ist das für dich, wenn ich dann ganz stumm werde?“ oder „kannst du mir dieses Gefühl noch genauer beschreiben“, „wie lange beschäftigt dich das schon“,…
Ich war völlig perplex. Nicht die Spur einer Anschuldigung, die ich aus ihren Fragen heraushören konnte. Sie ließ es tatsächlich gelten, dass ich da wirklich nicht aus meiner Haut konnte. Zum Abschluss des Gesprächs sah sie mir ganz tief in die Augen, nahm erneut meine Hände und sagte, „ich mag dich, wie du bist“.
Sie hat das nicht zum ersten Mal zu mir gesagt, aber wir wussten beide, dass es diesmal eine völlig andere Bedeutung hatte. Ich fühlte mich nicht nur verstanden, sondern ganz tief in meiner Seele angenommen und geliebt. Ich war froh, dass ich mich traute, dieses Thema endlich anzusprechen.
Am nächsten Tag wollten wir in der Garage ein paar Lampen montieren. Ingrid und ich saßen mit den Kindern gemütlich beim Frühstück. Ich sagte zu Ingrid, „jetzt hoffe ich, dass es mir heute besser gelingt“. Wenig später stand ich auf der Stehleiter und bemerkte, dass der falsche Bohrer eingespannt war und bat Ingrid, mir statt dem 8er einen 6er-Bohrer zu holen. Als sie zurück kam, hatte sie statt einem 6er-Steinbohrer einen Eisenbohrer in der Hand.
Mein Reflex war sofort da: „wie oft habe ich dir das schon erklärt!“, gab ich ärgerlich von mir. Im selben Moment wurde mir unser gestriges Gespräch bewusst. Wut über mich selber stieg augenblicklich in mir auf und ich schleuderte den Bohrer, den ich noch in der Hand hatte, in eine Ecke und stieg sofort von der Leiter. Ich wendete mich Ingrid zu, die in diesem Moment überhaupt nicht wusste, was das jetzt werden sollte. Ich entschuldigte mich bei ihr mit den Worten, „jetzt bin ich schon wieder so, das tut mir leid.“ Wir umarmten uns und drückten uns ganz fest aneinander. Ingrid sagte wieder, „ich mag dich, wie du bist“. Das veränderte alles!
Was hier passierte, lässt sich am besten mit einem Text von Anthony de Mello beschreiben:
Meine Freunde sagten seit Jahren zu mir, ich solle mich ändern.
Meine Frau nickte dazu.
Jeder sagte mir immer wieder, ich solle mich ändern.
Ich pflichtete ihnen bei und ich wollte mich ändern,
aber ich brachte es nicht fertig, so sehr ich mich auch bemühte.
Dann sagte eines Tages meine Frau zu mir:
“Ändere dich nicht! Bleib, wie du bist. Es ist wirklich nicht wichtig,
ob du dich änderst oder nicht.
Ich liebe dich so, wie du bist. So ist es nun einmal.”
Diese Worte klangen wie Musik in meinen Ohren:
“Ändere dich nicht, ändere dich nicht … ich liebe dich.”
Und ich entspannte mich und ich wurde lebendig und
Wunder über Wunder, ich änderte mich!
Jetzt weiß ich, dass ich mich nicht wirklich ändern konnte,
bis ich jemanden fand, der mich liebte,
ob ich mich nun änderte oder nicht.
Das war wirklich Heilung, die ich hier durch Ingrid erfahren habe, auch wenn es vereinzelt immer noch Situationen gibt, wo ich in mein altes Verhaltensmuster hinein rutsche. Mir wird das in diesen mittlerweile seltenen Fällen sehr rasch bewusst und spreche es sofort an, wenn es die Situation erlaubt – ansonsten spätestens vor dem Schlafengehen. Während ich das schreibe, bin ich sehr berührt und unendlich dankbar für die große Liebe von Ingrid.
Seither ist es uns wichtig, dass wir uns nach getaner, gemeinsamer Arbeit gegenseitig bedanken, sei es auf der Baustelle, beim Rasenmähen, im Garten, in der Küche,… Es gibt tatsächlich kein gemeinsames Arbeiten mehr, ohne hinterher ein aufrichtiges und wertschätzendes DANKE auszusprechen – und das ist bis heute zu keiner Floskel geworden. Wir bedanken uns ebenso nach einem gemeinsamen Ausflug, weil dieser
ohne den anderen nicht in dieser Form möglich gewesen wäre. Ebenso bedanken wir uns nach dem Kuscheln oder einer sexuellen Begegnung ganz bewusst beim anderen… Dadurch erleben wir täglich, was wir aneinander haben und dass nichts selbstverständlich ist.
„Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“