Am 25. Dezember 1989 nahm ich wieder einmal meinen ganzen Mut zusammen und schrieb Ingrid folgendes:
Liebe Ingrid!
So weit Du auch weg bist, ich denke trotzdem oft an Dich. Ob Gmunden oder St. Anton, Du kannst Dir gewiss sein, dass ich immer an Dich denke
und auch für Dich bete. Ingrid, ich mag Dich wirklich sehr. Ich darf Dir sagen, dass ich Sehnsucht nach Dir habe…
Weißt du, wonach mir jetzt zumute ist? Ich würde mich am liebsten gleich ins Auto setzen und nach St. Anton fahren…
Die drei Tage, bis von Ingrid eine Antwort kam, waren unendlich lang. Ihr Brief ist noch gerade rechtzeitig vor dem Silvestertreffen angekommen, bei dem ich diesmal schon als Gruppenleiter eingeteilt war.
Lieber Walter!
Ich liege im Bett – und das Buch, in dem ich grad gelesen habe, hat mich jetzt voll animiert, dir zu schreiben. Eigentlich gibt es gar nichts
Triftiges, das ich Dir erzählen müsste. Aber allein schon das „an Dich denken“ trägt mich in eine andere Welt, in meine Welt. Ja, und ich
denke sehr gern und oft an Dich“…
„Na, ja, „nichts Triftiges“ und doch denkt sie sehr gerne und oft an mich?“ Auf der dritten Seite kam dann noch eine Geschichte über eine Blume, in die ich mit etwas mehr Sicherheit hineininterpretieren konnte, dass Ingrid auch tiefere Gefühle für mich hatte. Ich war schon überglücklich, dass sie mich mit meinen Gefühlen nicht ablehnte. Trotz ihrer Zaghaftigkeit war es ein Schritt nach vorne.
Jetzt ging es erst einmal zum Silvestertreffen nach Stadl. Gleich am ersten Tag hielten wir unseren persönlichen Jahresrückblick. In der ersten freien Minute, die sich mir bot, setzte ich wieder zu einem Brief an Ingrid an. Ich musste den Beziehungsstatus zwischen uns jetzt endgültig klären.
Liebe Ingrid!
Danke für jede Stunde, jede Minute, die ich mit dir in diesem Jahr verbringen durfte. Wenn ich so im Stillen zurückdenke, so fühle ich mich wie der
glücklichste Mensch der Welt. Du warst und bist für mich der Mensch, der mir am meisten bedeutet. Ich möchte dir jetzt ganz frei sagen, dass ich dich
liebe, mehr als alle anderen…
„Diese faszinierende, junge Frau macht mich fertig“, dachte ich mir, als ihre Antwort kam. Mit keinem einzigen Wort ging sie auf meine Liebeserklärung ein. Ingrid schrieb mir genauso lieb wie immer, hat mich weder abgewiesen, noch hat sie sich einen Schritt
nach vorne gewagt. „Hat sie meinen Brief vielleicht noch gar nicht bekommen? Kann nicht sein, sie hat sich ja auf meinen Jahresrückblick
bezogen“.
Zum ersten mal als Gruppenleiter bei diesem Silvestertreffen dabei zu sein, gab mir genügend Selbstbewusstsein, um auf die einen oder anderen Probleme einzugehen, die bei den jugendlichen Teilnehmern da waren. Isolde lud mich in der Silvesternacht zu einem nächtlichen Spaziergang ein, der letzten Endes bis halb fünf Uhr in der Früh dauerte. Es ging vorwiegend um das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern. Da war schnell eine Verbindung zwischen uns, weil ich ein guter Zuhörer war und auch meine Erfahrungen einbringen konnte. Und jetzt kommts: Isolde schrieb mir unmittelbar nach diesem Silvestertreffen einen Brief, in dem sie mir gestand, dass sie sich in mich verliebt hat!
„Boah! Das überfordert mich jetzt echt! Verliebt in MICH?“„Isolde ist mir sympatisch, sodass tat sächlich etwas aus uns werden könnte. Ich
kann mit ihr ähnlich gute Gespräche führen, wie mit Ingrid. Aber was ist nun mit Ingrid? Bis jetzt habe ich kein wirklich eindeutiges
Zeichen von ihr, dass sie mit mir zusammen sein will! Was mach ich bloß?“
Ich entschied mich, mit Ingrid weiterhin so offen zu sein, wie bisher und schrieb ihr von Isoldes Brief. Ihre Antwort war folgende:
„…was du da über Isolde schreibst, macht mich sehr betroffen – und fast ein bisschen schuldig. Ich kann mich sehr gut in ihre Situation
hineindenken – und mir wird kalt dabei. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich Dir, nein, eher ihr im Weg stehe. Dass sie so viel Hoffnung in Dich legt, dass sie in Dir so viel Ideale sieht, dass sie Dich liebgewonnen hat… und ich bin diejenige, die ihr all das zerstört. Und darum bitte ich Dich wirklich, dass Du so handelst, wie Du es für gut und richtig hältst – ohne Rücksicht auf mich. Ich tue mir schwer, das so auszudrücken und zu schreiben wie ich es meine; ich kann nur hoffen, dass Du mich richtig verstehst. Ich möchte weder Dir, noch Isolde weh tun.“
„Wie kann ein Mensch so ein großes Herz haben?“, dachte ich mir, als ich diese Zeilen von Ingrid las. Und trotzdem ließ sie wieder einmal alles offen. Lieber wäre mir gewesen, wenn sie in Tränen ausgebrochen wäre und mir endlich klar und unmissverständlich geschrieben hätte, dass sie ebenso in mich verliebt ist, wie ich in sie und dass sie ohne mich nicht mehr sein wollte. Ich kann nicht sagen, dass ich für Isolde nichts empfunden hätte. Mein Herz war aber eindeutig bei Ingrid. Hätte ich mich nun anders entschieden, weil mir Isolde sicherer war als Ingrid, hätte ich mich selbst verleugnet. Wir hatten bereits eine 4 Jahre lange gemeinsame Geschichte, in der es unendlich viele scheinbare Zufälle gab, die uns immer wieder zusammen führten. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich sicher, dass Ingrid meine Lebenspartnerin sein sollte.
Kurz darauf besuchte ich Ingrid in St. Anton, das erste Mal noch gemeinsam mit Rosi Doblhammer, einer gemeinsamen Freundin. Sie gab mir Sicherheit und hatte trotzdem so viel Taktgefühl, dass sie uns einen Spaziergang zu zweit zugestand. Beim Verabschieden küssten Ingrid und ich uns zum ersten Mal! Es war ein unbeschreiblich schönes Kribbeln, die weichen Lippen von Ingrid zum ersten mal zu spüren! Die lange Reise für den einen Nachmittag zahlte sich also voll aus!
Ende März besuchte ich Ingrid noch ein zweites Mal – zu ihrem 22. Geburtstag. Ich brachte ihr einen selbstgemachten Schüttelkuchen und 22 rote Rosen mit. Ingrid freute sich riesig über meinen Besuch und war voller Stolz, als sie mich bei ihrer Kollegin und den Hotel-Chef’s mit den Rosen in der Hand vorstellte. Da konnte ich richtig beeindrucken 🙂 Total gut gefiel mir auch die neue Frisur von Ingrid. Sie war nun innen wie außen perfekt für mich!
Unsere Briefe wurden noch intensiver und länger. Der längste Brief von Ingrid umfasste 21 handgeschriebene A4-Seiten. Wir schrieben so oft, dass sich die Briefe am Weg zwischen Taufkirchen und St. Anton kreuzten. Einmal die Woche telefonierten wir aus der Telefonzelle. In den meisten Telefonaten ging eine 100 Schilling-Wertkarte drauf.
“Ich habe mich in dich verliebt,
ohne wirklich zu wissen, wer du bist.
Mein Herz sagt nur, du bist dieser eine Mensch für mich.”