Der Schachverein bot mir die erste Möglichkeit, am Freitag Abend ohne die Aufsicht meiner Eltern weg zu sein. Rudolf Bittner, der Vereinsobmann war für meine Eltern der Garant, dass ich nicht unbemerkt auf die schiefe Bahn geraten konnte. Wenn wir am Sonntag auswärts Meisterschaft spielten, gingen wir mit Rudolf in die Frühmesse, bevor das Turnier begann. Das war die Bedingung meiner Eltern, aber es war auch Rudolf ein Anliegen.

Schulschach und der Schachverein ergänzten sich freundschaftstechnisch perfekt. D.h. meine Jugend war SCHACH in Großbuchstaben. Ich war
gefordert, hatte Erfolge und jede Menge Spaß mit meinen Schachfreunden – zum Beispiel beim Tandemschach. Ich schaffte es zwar nicht an die Spitze, aber das war mir egal. Unter meinen gleichaltrigen Freunden konnte ich sehr gut mithalten und war gefragt. Dass ich jeden Freitag, im Winter bei Dunkelheit, alleine durch ein ziemlich großes Waldstück gehen musste, um zu Fuß ins Vereinslokal zu kommen, nahm ich trotz meiner Ängste gerne in Kauf.

Niederlagen konnte ich beim Schach nicht immer so gut verkraften. Sieben der acht Meisterschaftspartien waren bereits beendet. Nur ich kämpfte nach mehr als fünf Stunden Spielzeit noch ehrgeizig um den Sieg, gegen einen eigentlich weit überlegenen Gegner. Ich war mit zwei Bauern im Vorteil, es sollte also nicht allzu schwierig sein, diese Partie für mich zu entscheiden. Alle anderen Spieler unseres Vereins und auch die der gegnerischen Mannschaft standen um uns herum, analysierten und tuschelten. In jedem ihrer Gesichter und an ihrer Gestik war ablesbar, was sie vom einen oder anderen meiner Züge hielten. Unfähig dieser Belastung standzuhalten, beging ich einen Fehler, der mich die Partie kosten sollte. Als ich den Fehler bemerkte, war ich gelähmt, wie in einem schlechten Film. Das Getuschel um mich herum, das sichtbare Bedauern, die verärgerten Gesichter mancher Vereinskollegen, die Freude der gegnerischen Zuschauer, dieser giftige Gefühlscocktail überwältigte und streckte mich augenblicklich zu Boden. Ich war in diesem Moment nicht mehr Herr meiner Sinne. Die Tränen schossen von einem Moment auf den anderen aus meinen Augen. Ich kam mir vor, als wurde ich vor allen Anwesenden bis auf die Haut ausgezogen und schämte mich fürchterlich. So konnte ich mich auf keinen Fall zeigen. Um der Situation und den weiteren Analysen zu entkommen, schob ich die Figuren auf dem Schachbrett blitzschnell zusammen und rannte zur Tür hinaus. Das war ziemlich unsportlich von mir, aber es ging in diesem Moment nicht anders.

 

“Wer versteht, die Früchte seiner Niederlagen zu ernten,
wird gestärkt aus ihnen hervorgehen.”